Die Küstenregenwälder im Osten und Südosten Brasiliens (auch als „Mata Atlântica“ bezeichnet) sind als Verbreitungsgebiet zahlreicher Endemiten aus der Tier- und Pflanzenwelt einer der artenreichsten Lebensräume der Erde. Nahezu alljährlich werden auch neue Vogelarten aus diesem Teil Südamerikas beschrieben. Durch die Expansion von Ballungsgebieten (z.B. Salvador, Rio de Janeiro, São Paulo) und die Umwandlung von Wald in landwirtschaftliche Nutzflächen insbesondere seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verschwanden inzwischen mehr als 90% der Regenwaldflächen unwiederbringlich. Damit ist die Mata Atlântica das am stärksten bedrohte kontinentale Ökosystem der Erde. Die heutige Tropenwaldforschung konzentriert sich auf die wenigen noch verbliebenen zusammenhängenden Waldgebiete in den gebirgigen Teilen des Landes und die Waldinseln, die noch immer eine Reihe (avi-)faunistischer Überraschungen bergen.
In dieser kritischen Situation hat der Brehm Fonds die Unterstützung eines Feldforschungsprojektes beschlossen, um ganz konkret zur Verbesserung der Kenntnisse über noch wenig bekannte und besonders gefährdete Vertreter der brasilianischen Vogelwelt und zu ihrem Schutz beizutragen. Die Untersuchungsgebiete liegen in den Bundesstaaten Espirito Santo und Bahia.
Unter dem Namen „Harpyie“ startete im Sommer 2004 unser Projekt unter der Leitung einer brasilianisch-deutschen Forschergruppe. Der Projektname weist auf den mächtigsten aller südamerikanischen Greifvögel, die Harpyie (Harpia harpyia), hin, dessen östliche Verbreitungsgrenze in der mittleren Mata Atlântica liegt und dessen Bestandsituation und Gefährdung analysiert werden sollen. Die örtliche Leitung liegt in den Händen von Prof. M. de Vasconselos und seiner Arbeitsgruppe von der Universidade de Minas Gerais, Belo Horizonte.
Daneben sollen Bioakustik, Reproduktionsbiologie, Verbreitungsmuster und Zugverhalten von anderen endemischen Vogelarten erfaßt werden. Dazu gehören z.B. die Töpfervogelarten Schizoeaca moreirae und Asthenes luizae, der Bahia-Ameisenschnäpper (Rhopornis ardesiacus), der Silberbrauen-Tyrann (Polystictus superciliaris), die Langschwanzammer (Embernagra longicauda) und die extrem seltenen Kolibriarten Margareteneremit (Phaethornis margarettae), Goldmaskenkolibri (Augastes lumachella) und Schildkolibri (Augastes scutatus). Die angewandten Methoden umfassen Netzfang, Punktzählungen und Beringung und erlauben die Messung von Körperdaten sowie die Abschätzung von Alter, Geschlechterverhältnis, Mauserzustand, Reviergröße und Habitatpräferenzen. Mittels statistischer Verfahren werden anschließend ökologische Faktoren wie Größe oder Grad der Isolation von Waldfragmenten untersucht, die einen wesentlichen Einfluß auf die Häufigkeit oder Seltenheit von Vogelarten haben.
Aus bestäubungsökologischer Sicht sollen Vogel-Pflanze-Interaktionen untersucht werden. Als Modellbeispiel dienen die nektarfressenden Kolibris (Trochilidae), die wichtigsten Bestäuber unter den Vögeln der Neotropis. Vertreter dieser Vogelfamilie besitzen spezielle Anpassungen an den Besuch von Blüten und die Aufnahme von Nektar wie den Schwirr- und Rückwärtsflug und einen extrem verlängerten Schnabel mit Saugzunge. Kolibris können darüber hinaus als Bioindikatoren dienen, da das Verhältnis von spezialisierten Bestäubern (Kolibris) gegenüber anderen, weniger spezialisierten Vogelbestäubern Auskunft über den Störungsgrad in ökologisch unterschiedlich stark beeinträchtigten Ökosystemen geben kann.
Nicht zuletzt sollen junge brasilianische Wissenschaftler im Projekt mit den Methoden moderner avifaunistischer Freilandforschung (Datenerhebung und –analyse) vertraut gemacht werden. Eine derartige Ausbildung bildet für sie die Grundlage für eine spätere Arbeit in den kommunalen Umweltschutzbehörden, die als Waldeigner mit Verwaltungs- und Überwachungsaufgaben in den Nationalparks und Naturreservaten befaßt sind und Schutzkonzepte für noch ungeschützte Waldflächen erarbeiten.
Im September 2006 startete unter der wissenschaftlichen Leitung des Biologen und Ornithologen M. F. de Vasconcelos, verantwortlicher Mitarbeiter des Brehm Fonds-Projektes in Brasilien, unter dem Namen „Desafio do Espinhaço“ („Herausforderung Espinhaço“) eine mehrwöchige Forschungsexpedition in die am höchsten gelegenen, südlichen Regionen des Espinhaço-Gebirges in Minas Gerais zwischen den Städten Ouro Preto und Diamantina. Entlang des 416 km langen Fußmarsches durch größtenteils schwer zugängliche und unerforschte Wildnis waren die Erkundung der naturwissenschaftlichen Besonderheiten des Gebietes, die Kartierung von Lebensräumen und Pflanzengesellschaften sowie natürlich die Erforschung der Avifauna die wichtigsten „Herausforderungen“ an das Forscherteam. Die Vögel wurden sowohl optisch als auch akustisch registriert bzw. zur besseren Beobachtung und der Aufnahme von Vokaläußerungen mit artspezifischen Gesangsvorspiel, sog. „Klangattrappen“, angelockt. Immerhin konnte eine Gesamtzahl von 202 Arten registriert werden. Die Exkursion erfolgte in drei Etappen; die wichtigsten Ergebnisse können dem Rundbrief 2/2007 entnommen werden. Dabei erzielten die Forscher bemerkenswerte Nachweise seltener Arten, darunter den nördlichsten Nachweis des Iraí-Tapaculos (Scytalopus iraiensis), eines erst 1998 wissenschaftlich beschriebenen Vertreters aus der Familie der Bürzelstelzler (Rhinocryptidae), in einem hochgelegenen Sumpfgebiet der Serra do Cipó.